Täglich rauschen Gemüse, Gewürze, Getreide und Getränke, Früchte, Fleisch und Fisch in enormer Vielzahl und Vielfalt durch unsere Hände und vorbei an unserem Gaumen. Dabei interessiert uns vor allem, ob sie uns schmecken, wie sie verarbeitet werden können, was für einen Effekt sie auf unsere Gesundheit haben. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, wie viel sie kosten – oder wie wir unsere soziale Reputation damit gestalten können. Unter Umständen haben wir zu dem einen oder anderen Stück, das in unseren Mund wandert, eine besonders liebevolle Beziehung, was in aller Regel damit zu tun hat, dass wir Erinnerungen an unsere Kindheit oder auch an Ferien, Liebschaften, Triumphe damit verknüpfen. Wenngleich diese Mundstücke ständig um uns sind, haben wir meist nur wenig zu ihnen zu sagen. Und wenn wir die mannigfaltigen Genüsse beschreiben sollen, die sie uns bescheren, dann fallen uns immer in etwa die gleichen Worte ein.
Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass Nahrungsmittel in unserer westlichen Welt heute im Überfluss vorhanden sind. Wir müssen zum Glück keinen Hunger mehr leiden. Sprache aber dient mitunter dazu, etwas zu ersetzen, etwas mit Worten präsent zu machen, das fehlt, nach dem man sich sehnt. Hungrig bildet die Fantasie auch Stellvertreter aus: Sätze, die man kauen kann und Wendungen, aus denen der Bratensaft spritzt. In satten Zeiten können wir uns solche Anstrengung sparen. Aber fehlt uns nicht auch etwas, wenn wir diese ganzen Esswaren einfach als Selbstverständlichkeit hinnehmen?
Seit 2013 arbeite ich an einer Serie von Texten, in denen einige dieser Mundstücke für einen Moment zu Protagonisten erhoben und in einer konzentrierten Art ernst genommen werden. Es geht um Verlangsamung und darum, einen ebenso dilettantischen wie bornierten Blick auf einzelne Esswaren zu richten. Und es geht auch darum, eine neue Form des Nachdenkens und Schreibens über diese Mundstücke auszuprobieren. Die Texte entstehen meist im Rahmen einer zeitlich limitierten und bis zu einem gewissen Maß ritualisierten Konzentration auf den Gegenstand – und es versteht sich wohl fast von selbst, dass sie nach Möglichkeit mit einem Hungergefühl im Bauch begonnen werden.
Zu Beginn der Reihe bereitete mir die Frage der Illustration einiges Kopfzerbrechen. Wie lassen sich ein paar Pfefferkörner und eine ganze Krabbe, Rotwein, Kürbis und Käse so darstellen, dass man sie als Teil einer Serie erkennt? Ich fand die Lösung in einer Präsentationsform, wie man sie aus altmodischen Kantinen gewohnt ist, legte alle Objekte auf runde Teller oder in runde Schalen, spannte ein Stück Klarsichtfolie darüber und fotografierte direkt von oben, mit möglichst neutralem, von allen Seiten gleichmäßig einströmendem Licht.
Zwischen 2013 und 2017 erschienen etwa 70 dieser Texte in der Neuen Zürcher Zeitung – zunächst im Feuilleton, später in der Freitagsbeilage. Eine weitere Serie wurde 2017 auf Englisch publiziert in dem von Nicolaj van der Meulen und Jörg Wiesel bei Transcript herausgegebenen Buch Culinary Turn – Aesthetic Practice of Cookery. (PDF des Bandes). Seit 2018 erscheinen neue Mundstücke in der von Martin Wurzer-Berger und Thomas Vilgis verantworteten Zeitschrift Journal Culinaire (Webseite des Journals). Zahlreiche Mundstücke können über mein Verzeichnis angsteuert und als PDF heruntergeladen werden.
2017 hat der Rotpunktverlag eine Auswahl meiner Mundstücke als Buch publiziert: Mundstücke (168 Seiten, 20.4 × 11.0 cm, gebunden, mit 33 Farbfotos). Man kann das Buch über den Verlag bestellen oder zum Beispiel über das Buchhaus Lüthi Balmer Stocker.